von Gabriela Mayer
Aus dem argentinischen Spanisch von Inge Stache
Die Suche nach dem Haus gestaltete sich schwierig. Bis wir eines Tages wussten: Ja, dieses musste es sein. Anfangs hatten wir Flügel. Wir folgten uns von Zimmer zu Zimmer. Die Luft leistete keinen Widerstand. Fast immer ertönte unser Lachen. Unsere Körper spielten, sich zu fangen, erwartungsvoll. Sie waren beieinander. Sie rieben sich. Sie verstrickten sich. Wir waren leicht, deshalb fiel es uns nicht schwer zu fliegen. Das Flattern war konstant. Hin und wieder fiel eine Feder zu Boden.
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Wir waren weiterhin davon überzeugt, dass dies unser Haus war. Auch wenn das Fliegen im Laufe der Monate schwerer fiel. Wir wurden müde. Den ganzen Tag mit den Flügeln zu schlagen, ist nicht so einfach, wie es scheint. Wir sprachen es nicht aus, aber beide dachten wir, dass Schweben eigentlich besser sei. Die Körper schwebten in der Luft, kaum eineinhalb Meter über dem Boden.
Wir stießen uns mit Armen und Beinen ab, so als ob wir schwimmen würden. Da wir sie nicht benutzten, wurden unsere Flügel immer brüchiger. Ohne dass wir es merkten, fielen sie langsam ab. Wir waren nicht traurig, sie zu verlieren, denn Schweben machte auch Spaß. Und wir schwebten gerne zusammen. Manchmal schien er über mir zu schwimmen, ein anderes Mal war ich über ihm. Oder wir spielten weglaufen, nachlaufen und fangen. Anfangs bewegten wir uns schnell in der Luft, aber das wurde immer schwieriger.
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Seit langem waren wir nicht mehr geflogen und dann kam ein Tag, an dem wir auch nicht mehr schweben konnten. Das ist nicht so schlimm, sagte ich zu ihm. Natürlich nicht, antwortete er. Die Mehrheit der Menschheit geht. Von nun an hörte man im Haus unsere Schritte, meine leichter und seine schwerer. Manchmal folgten wir einander, aber andere Male ging jeder einfach seinen Weg. Gehen ist schön, sagte er zu mir. Ja wirklich, sagte ich. Das Fliegen war sehr anstrengend. Und das Schweben auch. Von unseren Flügeln war nichts übriggeblieben. Und wenn wir schweben wollten, erhoben wir uns nur einige Zentimeter.
Unsere Körper wogen schwer auf dem Boden, die Füße waren von der Schwerkraft praktisch eingefangen. Vorher, als wir Flügel hatten, konnten wir auf die Regale fliegen, die bis an die Decke reichten, von dort hatten wir eine andere Perspektive. Auch mussten wir uns vor der Wärme der Lampen in Acht nehmen, die unsere Flügel hätten schädigen können.
Eines Morgens, er war nicht im Haus, versuchte ich zu fliegen. Ich stellte mich auf die Kommode, wie so oft. Flügel hatte ich keine mehr, also schwang ich die Arme. Ich schwang sie mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand, trotzdem fiel ich schwer zu Boden. Also versuchte ich zu schweben und stieß mich so wie früher mit Armen und Beinen ab. Aber das ging auch nicht.
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Die alte Holztreppe mit ihren hohen und unregelmäßigen Stufen hinauf und hinunter zu gehen, war erschöpfend. Deshalb nahmen wir uns vor, sie nicht mehr so oft zu benutzen. Gleichzeitig hatten wir keine andere Wahl, als diesen Weg mehrmals am Tag zu nehmen. Wenn wir es taten, klammerten wir uns ans Geländer.
Nur noch selten begegneten wir uns. Eines Nachmittags trafen wir uns zufällig auf dem Treppenabsatz. Er ging nach oben, ich nach unten. Das strengt mich zu sehr an, sagte er. Mich auch, meine Beine sind bleischwer, antwortete ich. Das Haus mochten wir immer noch. Oder vielleicht mochte es jeder auf seine Art.
Wenn ich oben seine Schritte hörte, blieb ich unten. Und er machte dasselbe. Sobald ich seinen schweren Gang auf der Treppe hörte, wusste ich, dass ich hinuntergehen musste. Oder hinauf. Es war schwierig aneinander vorbeizugehen, ohne sich zu streifen. Ich drückte mich gegen die Wand. Ein bisschen Beweglichkeit war mir noch geblieben. Wir wurden Spezialisten im Abwechseln. Oben, unten. Unten, oben. Wir konnten uns stundenlang aus dem Weg gehen. Selbst Tage. Wir sprachen kaum. Ein „Guten Morgen“ oder ein „Gute Nacht“, das von unten nach oben oder von oben nach unten hallte.
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Als er mich nicht sehen konnte, suchte ich im Schrank nach dem Stock, der meiner Großmutter gehört hatte. Ich benutzte ihn, um mich langsam von einer Holzstufe auf die anderen zu schieben. Er sagte nichts, aber er besorgte sich ebenfalls einen Stock. Ich sah ein paar Mal von der Küche aus, wie er den Flur durchquerte, mit gebeugtem Rücken und den ersten grauen Haaren. Unsere Schritte wurden immer schleppender, man hörte das klack, klack, klack der Stockspitzen auf dem Holzboden wie ein altes Echo unserer jungen Schritte. Von Zeit zu Zeit hörte ich, wie er fiel, so wie er meine Stürze hören musste.
Als wir nicht mehr gehen konnten, mussten wir kriechen. Das schwierigste war die Treppe. Wir einigten uns darauf, dass jeder in einem Stockwerk bliebe. Wir waren nicht mehr in der Lage, hinauf oder hinunter zu gehen. Das sprachen wir nicht aus, denn wir redeten nicht miteinander, aber wir wussten es. Ich blieb unten. Er blieb oben. Ich wäre gerne noch einmal hinaufgegangen, um mich zu verabschieden, aber ich hatte wirklich keine Kraft dazu. Und er auch nicht. Das Haus hatte sich in einen feindseligen Ort verwandelt.
Mein Magen, auf den ich mich meistens stützte, tat weh. Auch brannten meine Hände, mit denen ich mich, wie es eben ging, vorwärts bewegte. Die Schwielen an den Fingern schmerzten. Die geschwollenen Knie waren dunkelviolett.
Ein ständiges Zittern erschütterte meinen Körper, mir war fast immer kalt. Ich kam nicht an die Wolldecken im ersten Stock. Nach und nach verließ ich die Küche nicht mehr. Sie war mir immer als der hellste und wärmste Ort erschienen. Wenn ich Kraft hatte, kroch ich bis ans Fenster, um mich in der lauen Sonne zu wärmen, die durch die Glasscheibe drang. Manchmal sprach ich mit mir selbst, denn ich musste mir Gewissheit verschaffen, noch eine Stimme zu haben.
Mein magerer Körper war schwer wie Blei. Obwohl ich kaum etwas aß. Es war unglaublich anstrengend, ein paar Meter voranzukommen. Die Muskeln verkümmerten. Sie weigerten sich mit ungeahnter Kraft dagegen, sich zu strecken. Die Gerüche im Haus schienen sich alle in einem einzigen zu vereinen, streng und sauer.
Die Tage und die Nächte waren praktisch identisch. Das Schlafzimmer und das Bett waren oben geblieben, unerreichbar. Sie gehörten ihm. Ich schlief auf dem Boden. Hatte mir ein Kissen vom Sofa genommen. Der Rest meines Körpers ruhte so gut es ging auf den Fliesen. Seit langem konnte ich Arme und Beine nicht mehr ausstrecken. Meine gekrümmten Finger ähnelten Krallen.
Ich konnte kaum noch von einem Raum in den anderen kriechen. Den wenigen Geräuschen nach, die von oben kamen, er auch nicht. Mein Körper rollte sich immer weiter zusammen. Die Knie gegen die Brust gedrückt. Der Kopf dicht an den Beinen. Neben dem Ofen. Als ob er wärmen könnte, obwohl er aus war. Ich zitterte von Kopf bis Fuß. Ich schloss die Augen. Der schwarze Abgrund saugte mich auf.
Gabriela Mayer wurde in Buenos Aires geboren. Sie ist Schriftstellerin und Kulturjournalistin mit einem Abschluss in Kommunikationswissenschaften. Zuletzt veröffentlichte sie ihren vierten Erzählband „Sueños como cuchillos” (2022). Zuvor erschienen „El pasado sabe esperar" (2018), „Todas las persianas bajas, menos una” (2007) und „Los signos transparentes” (2003). Ihre Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Anthologien und Publikationen in Argentinien sowie im Ausland veröffentlicht. Übersetzungen einiger Erzählungen wurden in Englisch und Serbisch herausgegeben. Gabriela Mayer schreibt für argentinische und internationale Medien. Zurzeit ist sie für die Öffentlichkeitsarbeit des Goethe-Instituts Buenos Aires zuständig. Foto: Paola Liguori
Inge Stache, geboren in Seelbach, Deutschland, lebt seit 1981 in Argentinien. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrungen als Kuratorin von Kulturprogrammen und -projekten, insbesondere im Bereich Film und audiovisuelle Medien. Mehr als 20 Jahre lang leitete sie die Filmabteilung des Goethe-Instituts Buenos Aires. Sie ist freiberufliche Übersetzerin für filmbezogene Themen sowie für Literatur und Poesie. Foto: Jorge Lembo
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