Gedichte von María Negroni
- alba.lateinamerika lesen
- 12. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Aus dem argentinischen Spanisch von Luisa Donnerberg
Ouvertüre
Im Reich der Schatten ist die Welt blau wie eine Orange. Eine Eklipse, die alles umfasst. Selbst der Tod ist ein blauer Weg. Das Leben drängt zu dieser zornigen Trauer ohne Hilfsverben.
Urtümliche Szene
Im Bienenstock des Unsichtbaren ist eine andere Existenz möglich. Nichts verhindert das Entblößen des Bewusstseins, das Untersuchen eines Tropfen Nichts im Buch der Empfindungen: Eine Reise zum neu geborenen Licht, die Erzählung der abwesenden Überreste.
Collagen
Die Vollkommenheit eines Sprungs verlangt viel. Anmut und Wille reichen nicht. Noch weniger die abtrünnige Wunde. Man muss das Scheitern erfinden, ein ungeduldiger Leser sein, Fragen stellen, die zum verdutzten Haus zurückkehren, wo niemand antwortet.
Schreiben
Das alles, um eloquent zu schweigen, um beharrlich abzusteigen ins stumme Gebiet, um die Gabe des Waisendaseins anzunehmen.
Graphitgrau
Worte, Zeichen, Figuren aufgebraucht, kehren wir für einen Moment zum Einfachsten zurück. Die Hand malt mit dem Bleistift das, was sie nicht versteht, geht von der Wüste der Ideen zur Musik des Waisendaseins, von der moralischen Landschaft zur Festung der Leere. Minimalmusik. Regloser Spaziergang zugunsten einer Übung ohne Vorgabe.
Diderotrot
Während der empfindsamen Jahreszeit taucht plötzlich die Farbe Rot auf. Mit der gleichen Vehemenz nähert sich ein Kästchen ungeschützter Emotion, so manch rätselhafte Wiege, die Wurzel von so vielem, die Nachkommenschaft der Sprache. Die Vorstellungskraft ist eine Königin ohne Thron mit unmenschlichen Empfindungen.
Ein griechischer Dichter kauft Worte
Ein fremdes Schiff für zwei Drachmen. Zu spät für drei.
Untergrundkind, gescheiterte Revolution, mörderische Grenze für fünf.
Nichts ist von Nutzen. Die Worte korrigieren das Wesen der Welt nicht, sie kompensieren nicht den unverzeihlichen Raub von Lebendem.
Zu spät, zu weit weg.
Niemand wird das Gedicht beenden. Die Unendlichkeit und ein Tag noch nie so kurz.
Konjugationen
Wenn mir eine Rassel in die Hände gegeben werden würde, wenn angesichts der verdutzten Tür der Bedeutung, wenn die Dinge, die früher in der Heimat der Gräber, wenn sie fallen, wenn wir hätten, wenn wir nur aufgrund des beklemmenden Schmerzes gegangen sind, wenn du es schließlich schaffen würdest, eine Ode an die menschenscheue Freude zu schreiben.

María Negroni, aus Rosario, gilt als eine der wagemutigsten, originellsten und produktivsten SchriftstellerInnen im heutigen Argentinien Sie hat zahlreiche Gedichtbände, Essays und Romanen veröffentlicht, aber in allem, was sie schreibt, so sagt sie selbst, ist sie vor allem Dichterin, also vor allem Spracharebiterin. Bei vielen ihrer Texte handelt es sich um hybride Werke, die Gattungs- und Genregrenzen überschreiten. María Negroni wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Guggenheim-Stipendium für Poesie und dem internationalen Essaypreis Siglo XXI. Derzeit leitet sie den Master-Studiengang für kreatives Schreiben an der Universidad Nacional de Tres de Febrero (Provinz Buenos Aires. In diesem Jahr ist sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Foto: Diana Pfamatter
댓글